Achim Berger:

 

(M)eine kleine Geschichte der Rykestraße

 

Ryke (Rieke)- welch eine Name für eine Straße! Ryke (Rieke)- berlinischer geht's nicht. Man denkt sofort an den alten Gassenhauer. "In Rixdorf ist Musike, da tanzt die alte Rieke für'n Sechser dreimal 'rum..."

 

Nun sind wir hier nicht in Rixdorf, und Ryke bezieht sich auf die alte Patrizierfamilie, die vom 14. Bis zum 16. Jahrhundert mehrfach die Bürgermeister von Berlin stellte. Einer von ihnen, Berhard Ryke,der die Amtskette in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhundert trug, wurde schließlich vom Magistrat der Stadt 1891 für so bedeutend befunden, dass eine noch namenlose Straße in einem Neubauviertel des Berliner Nordostens nach ihm benannt wurde. Seitdem heißen die 600 engbebauten Meter zwischen Knaackstraße und der Danziger Straße - Rykestraße. lm Gegensatz zu vielen benachbarten Straßennamen überlebte die "Ryke" Kaiserreich, Weimarer Republik, das sogenannte Tausendjährige Reich und die DDR.

 

Dabei wären ihre heute so begehrten Gründerzeithäuser im Endstadium der DDR beinahe dem damaligen Abrisswahn zum Opfer gefallen. Denn Ende der 80er Jahre schien der Abriss weiter Teile der Straße zugunsten sozialistischer Plattenbauten beschlossene Sache zu sein. lm Kiez regte sich heftiger Widerstand. Eine AG Rykestraße wurde gegründet, die Pläne zum Erhalt der – zugegeben ziemlich maroden Bausubstanz aus der wilhelminischen Ara erstellte. 1989 kam die politisch Wende. Statt Kahlschlagsanierung hieß in den 90er Jahren das Schlagwort nun "Behutsame Stadterneuerung". Leider blieben dabei viele "Ureinwohner" des Quartiers außen vor. Zu teuer wurde das Wohnen für sie in der immer schicker werdenden Rykestraße.

 

Wenn das die kleinen Leute, die Arbeiterfamilien der Anfangsjahre erleben könnten... Eine von ihnen war Agnes Wabnitz. In der Rykestraße 27 hatte sie im August 1894 für ein paar Tage Unterschlupf gefunden bei einer Freundin. Die Frauenrechtlerin und berühmte "Wanderrednerin" der SPD sollte eine 10monatige Gefängnisstrafe antreten wegen "Majestätsbeleidigung und Verächtlichmachung der Kirche". Mit der preußischen Justiz hatte sie ihre Erfahrungen. Sie fürchtete neue Erniedrigungen und nahm sich auf dem Friedhof der Märzgefallenen am 28. August 1-894 das Leben. ln der Wohnung der Freundin wurde die Tote aufgebahrt. 800 Menschen zogen am 01.September 1894 durch die Rykestraße über die Danziger Straße zum Friedhof in der Pappelallee"

 

Andere Straßen hatte die Polizei abgeriegelt. Zur Beerdigung am 02.September 1-894 erschienen 45.000 Menschen und legten 700 Kränze nieder, mehr als zur Beerdigung Kaiser Wilhelms l.

 

Das Vorderhaus Rykestraße 27 wurde im Krieg zerstört.

 

Auch in den Weimarer Jahren schlug das Herz der Bewohnerinnen und Bewohner im Prenzlauer Berg mehrheitlich links. Noch zu den Reichstagswahlen am 05. März 1933 hatten KPD und SPD eine absolute Mehrheit gegenüber den Nazis. Eine illegale Widerstandsgruppe der KPD hielt sich bis in die 40erJahre in der Rykestraße.

 

Ein Beispiel für viele: Franz Huth, Jahrgang 1906, Mitglied in der Roten Jungfront und KPD-Mitglied. Um Mitternacht, vom 2L. zum 22. März L933, stürmten SA-Leute die Wohnung in der Rykestraße 3, um Franz Huth zu verhaften. Dafür nehmen sie sich seinen schwer kriegsgeschädigten Bruder Fritz vor, der misshandelt wird, weil er den Aufenthaltsort des Bruders nicht verrät. Schließlich wird Franz Huth in der Wohnung seiner Schwester in der Rykestraße 21 (heute Spielplatz an der Ecke Sredzkistraße) aufgespürt" Die Nazis verwüsten beide Wohnungen und schleppen die Brüder in das SA-Lager Hedemannstraße 10 in Kreuzberg. Franz Huth stirbt an den schweren Misshandlungen, Fritz stirbt wenig später an den Folgen.

 

Andere Nazi-Opfer aus der Rykestraße :

Paul Seher aus der Rykestraße 18, Schlosser, Anarchist, im betrieblichen Widerstand, Zuchthaus.

Harry Hüttel aus der Rykestraße 22, politischer Leiter der Roten Hilfe, Zuchthaus.

Johannes Woli, ebenfalls aus der Rykestraße22, Rentner und Hilfsmonteur, KPD, Rote Hilfe, aktives Mitglied der Berliner Widerstandsbewegung, 1943 im Zuchthaus Brandenburg ermordet.

Karl Schwarz aus der Rykestraße 35, Kassierer der KPD, Zuchthaus.

Alfred Hempel aus der Rykestraße 36, KPD-Mitglied, Zuchthaus.

 

ln diesen Jahren befand sich in der Rykestraße 39 das Polizeirevier des Quartiers. Heute lädt dort die Tapisserie Albrecht zu angenehmer Einkehr.

 

Glücklicherweise hat das prachtvollste Gebäude der Straße, die Synagoge in der Rykestraße 53 die Progromnacht vom 09. Zum 10. November 1938 überstanden. Die Hinterhofsituation rettete das Gotteshaus vor dem Niederbrennen. Trotz Missbrauch durch die Nazis als Militärdepot und Pferdestall konnten die wenigen überlebenden jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger 1945 den Gottesdienst wieder aufnehmen. Nach der lnstandsetzung 1953 konnte der Landesrabbiner Dr. Martin Riesenburger das Haus als "Tempel des Friedens" wieder einweihen. Nach zwei gründlichen Restaurierungen ist die Synagoge Rykestraße wieder ein zentraler Punkt im jüdischen Leben Berlins.

 

Von 1933 bis 1939 unterrichtete in der jüdischen Schule im Vorderhaus der Rykestraße 53 Lilli Henoch als Turn- und Sportlehrerin. Sie war 10fache deutsche Leichtathletik-Meisterin und Weltrekordlerin. Am 05. September 1942 wurde sie nach Riga deportiert und dort von den Nazis ermordet.

 

Wenige Häuser in der Rykestraße wurden im Bombenkrieg völlig zerstört. Das Eckhaus Nr. 38 zur Sredzkistraße brannte nieder. Das Farbengeschäft im Erdgeschoß sorgte für ein schauriges Feuerspektakel. Die Ruine wurde nach dem Krieg gesprengt. Eigentlich sollte stattdessen die Nr. 37, ebenso beschädigt, abgerissen werden. Ein erfreulicher lrrtum der Sprengkolonne, wie wir heute feststellen dürfen.

 

Einen Vorteil hatten die freigebombten und freigesprengten Eckgrundstücke an der Ryke-/Ecke Sredzkistraße wenigstens für die Jüngeren. Die Trümmerflächen waren beliebte Abenteuerspielplätze für die Nachkriegskinder.

 

Dass sich in den 80er Jahren diese Generation unter anderem für den Frieden in unserem Land engagierte, ist nur konsequent. So trafen sich bei Gerd und Ulrike Poppe in der Rykestraße 28 Menschen wie Bärbel Bohley, Wolfgang Templin und andere, die Gruppen bildeten wie die "Initiative für Frieden und Menschenrechte" oder Frauen für den Frieden".

 

Hätte Agnes Wabnitz 100 Jahre später gelebt, wahrscheinlich wäre sie eine Mitstreiterin in diesen Kreisen gewesen.

 

Seit dieser Zeit hat sich das Leben in der Rykestraße sehr verändert. Politische Auseinandersetzungen finden jetzt woanders statt.

 

Einmal noch seitdem schrieb die Rykestraße Geschichte, wenn auch nur Filmgeschichte. Das war 1994. ln dem Film von Joseph Orr, "oben und unten" werden die damaligen rasanten Veränderungen im Prenzlauer Berg Thema einer Gesellschafts- und Beziehungskomödie. Einer der Drehorte ist die Kreuzung Ryke-/Ecke Sredzkistraße. Heute 20 Jahre später wirken diese Filmszenen aus dieser sozialen und politischen Umbruchzeit fast wie Bilder aus einer versunkenen Welt.

 

Schon damals konnte sich wohl kaum noch jemand erinnern an so herrlich harmlose Kinderspiele in der Straße wie etwa Hopse, Einkriegezeck und Völkerball. Rollschuhlaufen auf dem breiten Bürgersteig und Kantespielen, das gibt's nicht mehr. Dabei leben hier inzwischen so viele Kinder wie seit 100 Jahren nicht mehr. - Die Statistik weist den Kiez als Kinderreichsten der Stadt aus.- Und Kinderzubehör wird auch genug angeboten in den Geschäften der Straße, von der Babyschaukel,

über den Kinderwagen bis zu Designerklamotten für die Jüngsten. Nur man sieht sie kaum, die Kleinen. Gut verplant und aufbewahrt.

 

Und ihre Eltern sitzen am Feierabend auch nicht mehr bei Molle und Korn in der Eckkneipe' Aus den wenigen Destillen vergangener Tage sind viele, ansehnliche Restaurants geworden, die zum Büroschluss "Happy-Hour-Cocktails" anbieten und am Wochenende den Familienbrunch.

 

Mensch Rieke, wie haste Dir verändert!

 

Achim Berger, Stadterzähler

Berlin, 15.März 2O14

 

achim.berger@versanet.de

 

cpp01437.lwf chronik pankow, Rykestraße 8, 1915